Situationsmodell (Minimierungsstrategie 4/9)

Verurteilst du dein Gegenüber noch oder schaust du auf dem Zeitstrahl schon zurück?


Stell dir vor ...

Du im Gang. Zwei deiner Mitarbeiter auch. Sie streiten. Scheinbar geht es um die Sache, doch in Wahrheit begegnen sich Ego (»ich will aber …«) und Angst (»ich fürchte, dass ich … verliere«), so deine Vermutung. Unnötiges Machtspiel, so dein Urteil. Dich nervt dieser aus deiner Sicht vermeidbare Konflikt, aber du bleibst ruhig. Und genau das wundert dich. 

Denn letzte Woche, als die beiden in ähnlicher Weise aufeinanderprallten, da gingen dir die Pferde durch. Erst die verächtlichen Gedanken (»Was für Schwachköpfe hab ich mir da ins Team geholt!«), dann die sarkastische Bemerkung (»Sind wir hier im Kindergarten? Lätzchen gibt’s da vorn.«). Doch jetzt bist du völlig gelassen. Geradezu achtsam und einfühlsam, ja, liebevoll. Du hältst inne und fragst dich: »Wie kommt‘s, dass ich auf dieselbe Beobachtung mal genervt und mal gelassen reagiere? Kann es sein, dass meine jeweilige Reaktion mehr mit meinem Innern zu tun hat, als mit dem, was ich im Außen wahrnehme?« Und auf einmal fällt dir auf, dass es womöglich am jeweils zuvor Erlebten liegt. Du vergleichst: Jetzt gerade bist du mächtig stolz. Hast soeben die lobenden Worte eines dankbaren Kunden in einer E-Mail gelesen. Wie gut das tat! Doch wie war das letzte Woche? Ach ja, da hatte kurz vorher diese blöde Kuh angerufen und sich beschwert. Tatsächlich: Deine jeweilige Reaktion muss wohl allein von deiner aktuellen Befindlichkeit abhängen.  


Theoretisch heißt das …

Ausgehend von deiner aufmerksamen Selbstwahrnehmung kannst du dich bei jedem Ärger fragen: »Was ist im Vorfeld passiert, dass ich gerade heftiger reagiere als sonst?« Und nicht nur das: Für dein Gegenüber gilt umgekehrt dasselbe. Wann auch immer sich ein Mensch aus deiner Sicht unangemessen heftig äußert, kannst du sicher sein, dass ihm die berüchtigte Laus über die Leber gelaufen sein muss. Diese Annahme geht zurück auf das sogenannte Situationsmodell, das ich von Schulz von Thun übernommen habe (Schulz von Thun/Ruppel/Stratmann 2003: Miteinander reden: Kommunikationspsychologie für Führungskräfte). 

Du hast also stets die Wahl, einen Moment innezuhalten und dich zu fragen, was vorher beim Gegenüber passiert sein könnte, oder sofort auf das unerwünschte Verhalten mit Verurteilung und Ärger zu reagieren. An der unerwünschten Situation ändert sich nichts, aber dein Fokus verschiebt sich. Im ersten Fall befasst du dich mit dem, was vorher dem anderen widerfahren sein muss, im zweiten Fall mit dem von dir abgelehnten Verhalten in der Gegenwart. Im ersten Fall entsteht Neugier und Einfühlung, im zweiten Fall großer Ärger auf dein Gegenüber (siehe auch die folgende Tabelle).

Die vermutende und die verurteilende Haltung im Vergleich



Die vermutende, fragende Haltung kannst du einnehmen, wenn du humanistisch denkst und dich einfühlen kannst. Mit Humanismus meine ich hier: Kein Mensch ist von Natur aus böse. Jeder Mensch versucht zu jeder Zeit die beste Version seiner selbst hervorzubringen – einen freien, liebenden und fürsorglichen Menschen. Wenn meinem Gegenüber das (gerade) nicht gelingt, dann ist er (gerade) verhindert. Weil ihm in der Vergangenheit etwas genommen wurde, was ihm wichtig war oder ihm etwas gegeben wurde, was ihm nicht guttat. Und sobald er sich dessen bewusst wird und/ oder lernt, mit dem Mangel umzugehen, kann er (wieder) der liebenswerte, offene und zugewandte Mensch werden. Kein Mensch ist dauerhaft verloren.

Kannst du diese humanistische Grundhaltung zulassen? Wenn ja, schau dir dazu die beiden folgenden wichtigen Fragen zur Zeitlichkeit und zur Bewusstheit an.


Zeitlichkeit: Wann alles anfing 

Möglicherweise sind nicht nur recht aktuelle Ereignisse (die heutige E-Mail, das Telefonat neulich etc.) relevant, sondern auch weit zurückliegende. Womöglich sogar Erlebnisse aus deiner Kindheit. Die gängigen psychologischen Theorien sind sich einig: Deine gesamten Erfahrungen haben das Potenzial, dich im Hier und Jetzt einzuschränken. Ob gerade eben eine unschöne E-Mail, in der jüngeren Vergangenheit eine Nichteinladung zu einer Feier oder eine elterliche Bestrafung in deiner Grundschulzeit: Schlechte Erfahrungen und Verletzungen sind dir eingeschrieben. Und sie warten mitunter Jahre auf ihre Entladung.   

 

Bewusstheit: Was alles reinspielt 

Jegliche Begebenheit, die zu einem früheren Zeitpunkt dein emotionales Wohlbefinden gestört hat, kann also zeitversetzt im Hier und Jetzt ausbrechen. Dieser Reizreaktionsmechanismus läuft unabhängig davon ab, wann diese prägende Begebenheit stattgefunden hat und ob du dir ihrer bewusst bist oder nicht. Und da du als Erwachsener schon so manchen Tag auf der Erde verbracht hast und heute nur einen winzigen Ausschnitt davon wahrnehmen kannst, weißt du nicht, welche ungeklärten Konfliktpotenziale du noch mit dir rumschleppst. 

Hattest du positive Erfahrungen und bist deshalb positiv gestimmt, reagierst du gelassen. Hattest du negative Erlebnisse und bist nun in einer negativen Grundstimmung, reagierst du eher genervt, gestresst, frustriert.  Insofern hat jede deiner unerwünschten Ärgerreaktionen das Potenzial, dir die Augen zu öffnen: Jeder Ärger über jemanden gewährt dir Einblicke in deine eigenen Enttäuschungen – egal, ob sie heute Morgen stattfanden, letzte Woche oder im vorigen Jahrhundert. 


Praktisch heißt das -....

Was bedeutet die Einsicht, dass Ärgerreaktionen in Zusammenhang mit früheren Enttäuschungen stehen können, für dich in der Praxis? 

 

Kränkungsvermutung: Es muss wohl etwas passiert sein 

In der Rechtsprechung gilt der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. Solange die Schuld des Angeklagten nicht bewiesen ist, gilt er als unschuldig. Übertragen auf das Situationsmodell lässt sich formulieren: Im Zweifel für die Kränkungsvermutung. Sobald sich also jemand – aus deiner Sicht – der Situation unangemessen verhält, muss dies durch frühere Kränkungen, Entbehrungen oder Verletzungen erklärbar sein. Kurz: Nur wer Probleme mit sich herumträgt, zeigt problematisches Verhalten. 

Wenn du diesem Grundsatz auf abstrakter Ebene folgst, kannst du in jeder noch so schweren Situation innehalten. Ohne Kenntnis, was war, weißt du, dass etwas war. Es geht nicht um den Beweis, es geht um die Annahme. Wenn du auf Beweise verzichten kannst, bist du auf einem guten Weg, das Situationsmodell wirkungsvoll anzuwenden. 

 

»Benachteiligungsmanagement«: Die vergangene Benachteiligung des anderen ist genauso bedeutsam wie deine gegenwärtige 

Es wird Momente geben, in denen dir der Glaube an eine frühere, negative Prägung deines Gegenübers einfach nicht reicht, um gelassen zu bleiben. Was ich hier vorschlage ist eine Art »Benachteiligungsmanagement»: Versuche, deine aktuelle Benachteiligung auszuhalten, indem du dir vorstellst, welche Benachteiligungen dein Gegenüber in der Vergangenheit erlitten habe könnte (siehe auch folgende Tabelle).  



Wie die oben stehende Tabelle durch die Gegenüberstellung veranschaulicht: Es ist nicht leicht, während der eigenen Benachteiligung durch den anderen (klar beobachtbar – im Hier und Jetzt – den Übeltäter vor Augen) auch an die vermutete Benachteiligung des Gegenübers zu denken (lediglich vermutet – irgendwann in früherer Zeit – der Übeltäter im Verborgenen). Doch es lohnt sich. Warum? Weil du durch diese empathische Abstraktionsleistung dein Urteil aufheben kannst. Und wenn du das Urteil aufhebst, dann bleibst du verbunden mit deinem Gegenüber. Und wenn du verbunden bleibst, bist du offener, zugewandter und flexibler. Und darum geht es letztendlich. 


Doppelmoral ist etwas für Selbstgerechte 

Die im vorherigen Stichpunkt angedeutete Aufhebung deines Urteils kann dir deshalb gut gelingen, weil du dich in deinem Gegenüber wiederfindest. Auch du hast schon erlebt, dass du – je nach Vorgeschichte – mal liebevoller und mal liebloser aufgetreten bist. Wenn du also Verständnis für dein eigenes, manchmal unangemessenes Verhalten erwartest, solltest du es deinem Gegenüber ebenso gewähren. Es sei denn, du bist Anhänger der Doppelmoral: Mir doch egal, wenn ich von anderen etwas einfordere, was ich selbst nicht biete. Aber davon gehe ich nicht aus, sonst hättest du dieses Buch wahrscheinlich längst weggelegt. 



Übeltäter versus Meister: Allein du etikettierst

Mach den Übeltäter zum Meister. Der dich darauf aufmerksam macht, was dein Leben zukünftig bereichern wird. Oder mach ihn zum unliebsamen Lehrer, der dir nur deshalb Schmerzen bereitet, weil er dich an etwas erinnert, das du nicht lernen willst. Nicht sein Verhalten verursacht dein Leid, sondern deine Verweigerungshaltung. Er ist lediglich der Auslöser. Sieh in deinem Gegenüber einen Meister, und dein anfänglicher Ärger wandelt sich in Dankbarkeit. Oder betrachte ihn weiterhin als Übeltäter, und kultiviere deinen ungünstigen Ärger. Du hast auch hier die Wahl.



Reframing versus Rationalisierung
Wie oben gesehen ist Reframing sinnvoll, wenn du mit seiner Hilfe die verborgene Lernchance identifizierst. Nicht sinnvoll ist Reframing hingegen, wenn du es zur Rationalisierung missbrauchst. Was heißt das?

Reframing und Rationalisierung sind zwar beides Strategien, um Ärger zu bewältigen, doch es gibt einen wesentlichen Unterschied: Während Reframing Aufbruch bedeutet, ist Rationalisierung Stillstand. Sie hilft dir, Dinge so umzudeuten, dass es dir (scheinbar) gut geht. Und du rechtfertigst damit zugleich, dass alles bleiben kann, wie es ist. Rationalisierung dient dir dann als bequeme Möglichkeit, der Wahrheit nicht ins Auge schauen zu müssen.

Typische Rationalisierungsgedanken lauten: »Ist nicht so tragisch, es gibt noch viel Schlimmeres!«, »Da kann ich nichts machen, er ist halt so!« oder auch »Ich kann verstehen, warum er sich so unhöflich verhält, denn …!«. In all diesen Fällen reduzierst du zwar deinen Ärger über die andere Person, aber du bleibst mit deiner Bewältigungsstrategie im Außen, statt deine eigene Weiterentwicklung voranzutreiben. Die Kunst besteht darin, die Lernchance mithilfe von Reframing zu erkennen – nicht sich abzulenken, um den Ärger durch Rationalisierung besser auszuhalten. Mach dir nichts vor, sondern schau hin und stell dich!


Du nimmst mit ...

Mit dem Situationsmodell kannst du auf eine Verurteilung deines Gegenübers verzichten. Ausgehend von deiner humanistischen Grundannahme, vertraust du darauf, dass er einen guten Grund hat, so zu handeln. Auch wenn dir der Beweis dafür fehlt. Diese Gewissheit schützt dich davor, das beobachtete Verhalten allzu schnell zu kritisieren. Mit einer wissenden Haltung (Es muss etwas passiert sein) und einer fragenden Haltung (Was wohl genau passiert ist?) bleibst du in Verbindung. Und dein Ärger geht zurück. 



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