The Work (Minimierungsstrategie 8/9)

Gibst du weiterhin allein dem Anderen die Schuld oder erkennst du schon deine Anteile?


Stell dir vor ...

Du und deine Kollegen in der Besprechung. Irgendetwas passt dem einen Kollegen wohl nicht so ganz. Er sitzt schon seit einer Weile mit verschränkten Armen da, an die Rückenlehne gepresst, Augen zusammengekniffen. Natürlich alles keine Beweise, aber zumindest Indizien, dass nicht alles wünschenswert verläuft. Du hast keine Ahnung, was ihn stören könnte. Aber so schlimm wird’s schon nicht sein. Doch plötzlich steht er auf und verlässt den Raum. Du bist sprachlos. Wie kann der so was machen? Einfach weggehen, wenn ihm etwas nicht passt. Du ärgerst dich über sein egoistisches Verhalten und findest ihn in diesem Moment total bescheuert. Doch bevor dich der Ärger überwältigen kann, denkst du glücklicherweise an The Work.  


Theoretisch heißt das … 

Mit »The Work« nach Byron Katie (http://thework. com/sites/thework/deutsch) kannst du die Ärger auslösenden Gedanken identifizieren, hinterfragen – und sogar auflösen. Wie gelingt dir das? Indem du deine Perspektive auf recht unkonventionelle Weise erweiterst. Während Katie mehrere Jahre an einer Depression litt, entdeckte sie einen Zusammenhang zwischen ihren (subjektiven) Beobachtungen, ihren (negativen) Gedanken und ihren (unangenehmen) Emotionen. Sie erkannte, dass es nicht die Beobachtungen selbst waren, die ihren Ärger auslösten, sondern ihre Gedanken über die Beobachtungen. Als ihr zudem klar wurde, dass sie jeden einzelnen (schmerzhaften) Gedanken kontrollieren und verändern kann, hatte sie das Grundgerüst von The Work entwickelt.

Vereinfachend zusammengefasst: Achte auf deine Gedanken, hinterfrage sie, ändere sie, und der Ärger wird es schwierig haben bei dir.  Nach The Work richtet sich dein Fokus nicht auf die Außenwelt, also auf das Verhalten der anderen, sondern auf deine Innenwelt: deine Gedanken. Das Verhalten anderer kannst du nicht beziehungsweise kaum beeinflussen. Deine Gedanken aber schon. Aus dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass das Außen immer nur der Auslöser deines Ärgers ist, die Ursache jedoch in deinem Inneren (siehe auch folgende Tabelle):



Mit The Work kannst du der Wirklichkeit so begegnen, wie sie ist, ohne negativ über sie zu denken. Mit dieser neuen Einsicht kannst du deine Wahrnehmung auf das beschränken, was (wirklich) ist, ohne vermeidbare negative Energie in Form von Ärgergedanken hinzuzufügen. Was sich vielleicht etwas fernöstlich anhören mag, sind letztlich nur fünf Schritte, die jeder problemlos zurücklegen kann. Bist du bereit? Ich verspreche dir maximale Ärgerbefreiung.  


Praktisch bedeutet das …

The Work lässt sich in folgende fünf Schritte unterteilen: 

 

Schritt 1: Formuliere stichpunktartig den ausgelösten Ärgergedanken 

Beginn damit, deinen Ärger über die andere Person stichpunktartig aufzuschreiben. Da The Work zu Beginn sehr komplex ist, empfiehlt sich tatsächlich die Arbeit mit Stift und Papier. Stell zum Beispiel fest, wie du dich fühlst, was du von deiner Chefin willst, womit sie aufhören soll oder auch was du über sie denkst. Diese erste lose Sammlung von Ärgergedanken dient als eine Art vorbereitendes Brainstorming für Schritt 2. 

 

Schritt 2: Formuliere einen Ärgersatz – so konkret wie möglich 
Ausgehend von den gesammelten Stichpunkten formuliere einen prägnanten und präzisen Ärgersatz, beispielsweise: Ich bin … (Gefühl), weil er/sie … (Verhalten) oder Er/sie sollte … oder Er/sie ist … (Eigenschaft), weil er/sie … (Verhalten). Im obigen Fallbeispiel kann dein Ärgersatz folgendermaßen lauten: Ich spüre Wut und Ohnmacht, wenn der einfach so geht, ohne uns zu sagen, was ihn stört. Lass uns mit diesem beispielhaften Ärgersatz nun weiterarbeiten. Wir konnten diesen Satz gut umwandeln, weil die zentralen Aussagen klar benannt waren: Ich – Wut und Ohnmacht – einfach so gehen – ohne etwas zu sagen. Wenn es dir in einem anderen Kontext nicht gelingen sollte, die Dinge effektiv und effizient beim Namen zu nennen, wird The Work nicht funktionieren können. Ein Ärgerausgangssatz wie »Ich fand das doof, dass der plötzlich weg war« lässt sich nämlich umwandeln, weil die Ärger auslösenden Elemente und Phänomene unerwähnt bleiben. Ähnlich schwierig wäre es, wenn du mehrere Zeilen brauchst, weil dann der Fokus verloren geht. Wenn dir The Work also helfen soll, sei präzise und prägnant. Präzise  im Sinne von klar und eindeutig: Alle wesentlichen Ärgerfaktoren sind unmittelbar sichtbar. Prägnant im Sinne von »so viel wie nötig und so wenig wie möglich«: Dein Satz verzichtet auf jegliches Beiwerk, was dich ablenken könnte. Finde die zentrale Aussage und kondensiere sie maximal ein. 

 

 

 

Schritt 3: Beantworte vier Fragen zum Ärgersatz 
Mithilfe von vier Fragen attackierst du jetzt deinen Ärgersatz. Du prüfst, ob er in der Form bestehen bleiben kann und du machst dir bewusst, welchen Preis du aufgrund des Satzes zahlst. Gehe Schritt für Schritt vor und antworte, so ehrlich, wie du kannst:  

 

 



Schritt 4: Kehre den Ärgergedanken um und finde je drei bestätigende Beispiele 

Spiele mit dem Ausgangsärgersatz, indem du ihn sprachlich veränderst. Finde zu jeder geänderten Formulierung drei reale Beobachtungen aus dem Alltag, die belegen, dass die geänderten Aussagen auch stimmen. Stelle im Ergebnis fest, dass sowohl dein Ausgangsärgersatz als auch die drei alternativen Beobachtungen stimmen. Beobachte, wie sich durch die Blickwinkelerweiterung von einer auf vier Wirklichkeiten dein Ärger minimiert oder sogar auflöst. Der Ärgersatz »Ich spüre Wut und Ohnmacht, wenn der einfach so geht, ohne uns zu sagen, was ihn stört.« kann folgendermaßen umgewandelt werden (siehe auch Spalte 2 zur neuen, Ärger auflösenden Perspektive):  



Ich beobachte bei diesem vierten Schritt häufig zwei Herausforderungen. 

  • Schwierigkeit 1: Eine Zurückhaltung, um nicht zu sagen Verweigerung, bei der Aufgabe, den Ausgangssatz zu verändern 

Wahrscheinlich liegt das daran, dass Menschen ungeübt sind, einen Satz ohne ein Ziel zu verändern. Ohne ein klares »Wozu?« oder ein eindeutiges »Wie?« wirken sie oft konfus und richtungslos. Diese Verwirrung legt sich jedoch meist schon nach dem ersten Durchgang. Mit anderen Worten: Wer das Konzept von The Work erst einmal verstanden hat, kennt die Aufgabe in Schritt 4. Er weiß, dass er lediglich eine alternative Aussage erzeugen soll, ohne diese sofort zu begreifen oder sie als richtig einstufen zu müssen. Formuliere deshalb die neuen Sätze so spielerisch und frei wie möglich und mit dem Vertrauen, dass sie im Schritt darauf ihren Dienst tun. Den Dienst der Ärgerminimierung. 

  • Schwierigkeit 2: Der geänderte Ausgangssatz liegt ausgeschrieben vor dem Ärgergebeutelten, doch der schüttelt nur den Kopf

Nee, beim besten Willen, da fällt mir kein Beispiel ein! Oder: Kann schon sein, das da mal was war, aber da kann ich mich jetzt echt nicht mehr erinnern. Reflexe wie diese sind in der Regel nichts anderes als mal bewusste, mal unbewusste Verweigerungshaltungen. Hintergrund: Die Andeutung von Scham vernebelt den freien Blick. Die Angst, gleich zugeben zu müssen, dass man selbst ja auch schon mal so war, und das sogar mindestens drei Mal, lässt sie erstarren. Diese Falle hat eine sehr hohe Anziehungskraft. Sei dir bewusst, dass sie sich auch dir stellen wird, und tappe nicht hinein. Verzichte auf ein schnelles »Nee, jetzt echt nicht!« und halte inne. Lass deinen Blick in die Vergangenheit möglichst frei und neugierig herumstreifen und dich überraschen, was du letztlich alles entdeckst. Warum sollte für dich nicht gelten, was für alle anderen auch gilt? Als Mensch mit all seinen Verstrickungen und Launen und Defiziten, kannst du einfach keine weiße Weste haben. Auch du warst mal der Täter, den du jetzt an den Pranger stellen willst. Alles andere wäre Größenwahn. Und gegen Ignoranz und Doppelmoral hatten wir uns weiter oben ja schon ausgesprochen. 


Schritt 5: Prüfe, ob dein Ausgangsärgersatz an Wucht verloren hat

Nachdem du drei Umkehrungen formuliert und diese alternativen Wirklichkeiten mithilfe von drei realen Erfahrungen beziehungsweise Beispielen auch als wahr belegt hast, kannst du den anfangs geäußerten Ärgersatz tatsächlich relativieren. Der Clou: Der Ausgangstatbestand stimmt zwar noch immer (du warst eben gerade wütend, als er wortlos ging), doch neu ist, dass auch andere Tatbestände stimmen (du bist nicht wütend, wenn er geht oder du bist auch schon einmal wortlos gegangen), sodass der Ausgangsärgersatz an Größe, Wucht und Einseitigkeit verliert.  Du schwächst dein Urteil ab, indem auch andere, teils konkurrierende Sichtweisen dazukommen. Du legst die Scheuklappen und die Richterrobe ab und siehst Täter und Opfer und Nicht-Täter und Nicht-Opfer zugleich. Du bist der Wahrheit ein Stück nähergekommen, indem du deiner selbstgerechten, warmen und dunklen Höhle entflohen bist. Ein Hauch Weitsicht, ein Hauch Aufklärung. Zumindest für einen kurzen Augenblick.


Du nimmst mit … 

The Work kann deine Scheuklappen sprengen. Hältst du anfangs dein Gegenüber noch für den alleinigen Übeltäter und dich für das alleinige Opfer, entlarvst du diese Sicht als höchst einseitig und selbstgerecht. Mithilfe von ein paar aufwühlenden Fragen und drei spielerischen Umkehrungen erweiterst du deine Sicht. Du erkennst das gleichberechtigte Nebeneinander alternativer Wirklichkeiten und weichst somit dein Urteil auf. Als möglicherweise größte Herausforderung erkennst du im Gegenüber einen Spiegel deiner Selbst. Hast du eben die zu verurteilende Tat noch allein bei ihm gesehen, siehst du nach und nach ein, dass auch du das kannst. Auch du kannst Täter sein. Diese neue Sicht auf sich selbst als Auch-Täter führt bei vielen Menschen zu einer sofortigen Ärgerauflösung in Bezug auf den anderen. Nur zwei Haltungen können dich vor dieser selbstkritischen, aufklärerischen Sicht bewahren: zum einen Ignoranz, indem du die Gegenbeispiele konsequent leugnest. Zum anderen Doppelmoral, indem du unterschiedliche Maßstäbe anlegst. Dass, was bei deinem Gegenüber so stark ins Gewicht fällt, zeigt sich bei dir nur gelegentlich und nur am Rande.

Die guten Nachrichten: Ignoranz und Doppelmoral haben keine Chance, wenn du dich für Ehrlichkeit und Gerechtigkeit entscheidest. Mach The Work und lege deine Scheuklappen ab: Vom anfänglichen Nur-Opfer wirst du auch zum Nicht-Opfer und auch zum Täter. Du nimmst dich ganzheitlicher wahr, mit all deinen Facetten und Rollen, auch den unterdrückten und verdrängten. Als Seminarleiter und Coach weiß ich, dass die wenigsten Menschen diese Arbeit gerne machen. Denn sie kann das Selbstbild ganz schön zum Wackeln bringen. Daher steht The Work auch erst hier, an achter Stelle der Ärgerminimierung. 



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