Negativität attribuieren (Minimierungsstrategie 9/9)

Es gibt Grenzen der Empathie. Lass los, wenn die Arbeit getan ist. Restärger ist aushaltbar ...


Stell dir vor ...

Das soundsovielte Meeting. Kollege Dr. Laberlaber mal wieder am Zug. Du hast in den vergangenen Wochen alles gegeben: Hast mit Peter und Paul (1) dein Gegenüber als Menschen in Not erkannt, dann geprüft, ob deine Konstruktionen stimmen (2), und schließlich der Ärgersituation mit Reframing (3) einen neuen Rahmen gegeben. Du hast dann – weil du noch immer deutlichen Ärger gespürt hast – mit dem Situationsmodell (4) geschaut, welche Laus ihm über die Leber gelaufen sein könnte, die zunächst verborgene positive Absicht (5) erkannt und schließlich die versteckte Stärke mithilfe des Entwicklungsquadrats (6) identifiziert. Weil jedoch noch immer Restärger da war, hast du weitergemacht und dank der Zirkularität (7) eingesehen, dass auch du zum Ärger beigetragen hast und mit The Work (8) im anderen einen Spiegel deines Selbst erkannt. 

Du hast das Minimieren von 1 bis 8 also konsequent und entschlossen durchgezogen. Hast dir nichts vorzuwerfen. Nichts ausgelassen und bei keiner Strategie geschludert. Doch noch immer ist Ärger da. Was kannst du jetzt noch machen angesichts eines Menschen, den du einfach nicht final verstehen kannst? Trotz der geballten Ladung von acht Ärgerminimierungsstrategien? Du denkst an Kündigung, Frühverrentung, Kopfschuss – in deinen oder den von Kollege Dr. LL. Und dann, Gott sei Dank, kurz vorm Gang ins Munitionslager, fällt dir Nummer 9 ein. Und Nummer 9 zaubert dir ein Lächeln ins Gesicht, denn Nummer 9 sagt dir: »Lass los. Die Arbeit ist getan.« 


Theoretisch heißt das … 

Wenn du wirklich alle acht Strategien der Ärgerminimierung gewissenhaft angewendet hast und noch immer (Rest-) Ärger besteht, gibt es nur noch eins: das Negativitätsattest. Du stellst es dem anderen ohne Wenn und Aber aus. Denn offensichtlich strahlt er eine Form negativer Energie aus, die du dir nicht erklären kannst. Irgendwann kommt jeder an die Grenzen seiner Einfühlung und seiner Reflexion. Es kann schon sein, dass da noch was ist, was du entdecken könntest, aber: Du bist wahrscheinlich kein ausgebildeter Psychologe und erst recht kein Therapeut. Und selbst wenn: Du hast ja nach bestem Wissen und Gewissen alles versucht. Irgendwann muss Schluss sein mit Empathie, und in dem hier vorgestellten Modell ist dieser Punkt nach der Anwendung der acht Ärgerminimierungsstrategien erreicht. 


Praktisch bedeutet das …

Tief Luft holen und erst mal innehalten. Werde dir bewusst, dass die Arbeit in Phase 3 des AÄM erledigt ist. Du hast alles gegeben, um dir selbst auf die Schliche zu kommen. Erkenne an, dass du keinen Zugriff auf den verbliebenen Restärger hast. Die Gründe dafür entziehen sich momentan deinem Einflussbereich. Falls dich das Ergebnis wütend, traurig oder ohnmächtig macht, nimm diese Gefühle einfach nur wahr. Belass es dabei und sei gnädig mit dir; mehr war einfach nicht drin. Nach all deiner Arbeit ist Selbstkritik jetzt fehl am Platze. Wenn du nicht aufpasst, könntest du dich nämlich über den gefühlt zu hohen Restärger ärgern. Und das wäre nicht nur ungünstig, sondern auch unnötig.

Stattdessen hast du allen Grund, deine Leistung zu feiern. Stelle fest, dass du den anfänglichen Ärger signifikant reduziert hast. Auf der gedachten Skala zum Beispiel um sechs Einheiten, etwa von 9 auf 3. Egal wie hoch der Ausgangswert war, egal wie niedrig der Endwert ist: Mit der dir bestmöglichen Ärgerreduzierung bist du nun gut vorbereitet für Phase 4, das Konfrontieren. Und damit hat zugleich die Zeit begonnen, in der es für dein Gegenüber unangenehm wird. Doch ein letzter Schritt gehört noch zur Phase 3: Vergewissere dich, dass du nicht geschludert hast. Die meisten Menschen möchten ihren Ärger so schnell es geht am auslösenden Gegenüber abreagieren. Daher besteht die große Versuchung, Phase 3 nur halbherzig zu durchlaufen, um möglichst schnell zur Attacke überzugehen. Stelle also sicher, dass du die acht Strategien des Minimierens mit größter Sorgfalt durchlaufen hast. Falls du daran zweifelst, wiederhole lieber die eine oder andere. Das gelingt dir mit Ehrlichkeit und ein bisschen Disziplin. 


Du nimmst mit … 

The Work kann deine Scheuklappen sprengen. Hältst du anfangs dein Gegenüber noch für den alleinigen Übeltäter und dich für das alleinige Opfer, entlarvst du diese Sicht als höchst einseitig und selbstgerecht. Mithilfe von ein paar aufwühlenden Fragen und drei spielerischen Umkehrungen erweiterst du deine Sicht. Du erkennst das gleichberechtigte Nebeneinander alternativer Wirklichkeiten und weichst somit dein Urteil auf. Als möglicherweise größte Herausforderung erkennst du im Gegenüber einen Spiegel deiner Selbst. Hast du eben die zu verurteilende Tat noch allein bei ihm gesehen, siehst du nach und nach ein, dass auch du das kannst. Auch du kannst Täter sein. Diese neue Sicht auf sich selbst als Auch-Täter führt bei vielen Menschen zu einer sofortigen Ärgerauflösung in Bezug auf den anderen. Nur zwei Haltungen können dich vor dieser selbstkritischen, aufklärerischen Sicht bewahren: zum einen Ignoranz, indem du die Gegenbeispiele konsequent leugnest. Zum anderen Doppelmoral, indem du unterschiedliche Maßstäbe anlegst. Dass, was bei deinem Gegenüber so stark ins Gewicht fällt, zeigt sich bei dir nur gelegentlich und nur am Rande.

Die guten Nachrichten: Ignoranz und Doppelmoral haben keine Chance, wenn du dich für Ehrlichkeit und Gerechtigkeit entscheidest. Mach The Work und lege deine Scheuklappen ab: Vom anfänglichen Nur-Opfer wirst du auch zum Nicht-Opfer und auch zum Täter. Du nimmst dich ganzheitlicher wahr, mit all deinen Facetten und Rollen, auch den unterdrückten und verdrängten. Als Seminarleiter und Coach weiß ich, dass die wenigsten Menschen diese Arbeit gerne machen. Denn sie kann das Selbstbild ganz schön zum Wackeln bringen. Daher steht The Work auch erst hier, an achter Stelle der Ärgerminimierung. 



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